Für mehr Solidarität und Kinderrechte in der Armutsprävention für Kinder und Jugendliche 28. Juni 202128. Juni 2021 Wie unter einem Brennglas hat sich in der Corona-Krise gezeigt, dass armutsbetroffene Kinder und Jugendliche und ihre Familien stärker und härter von krisenhaften Ereignissen betroffen sind als finanziell gut situierte Familien. Deutlich wird, dass die bestehenden Versorgungsstrukturen die Nachteile niedriger Erwerbseinkommen oder den Bezug von Grundsicherung wie Hartz IV nicht ausgleichen. Besonders betroffen sind bestimmte Gruppen wie Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Familien mit langjährig chronisch Erkrankten und zugewanderte Familien. So hat die Coronakrise gezeigt, dass öffentliche Angebote und Einrichtungen für arme Kinder und Jugendliche eben nicht nur zum Wissenserwerb oder zur Freizeitgestaltung von Bedeutung sind. Vielmehr wird deutlich, was die Fachwelt bereits seit Jahren einfordert: Für die gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, für ihre emotionalen, psychischen und körperlichen Grundbedürfnisse, wie Nahrung und medizinische Versorgung, Schutz vor psychischer und physischer Gewalt und Vernachlässigung sowie ihr Recht auf Bildung und soziale Teilhabe sind die öffentlichen Angebote unentbehrlich. Beispielsweise fiel das gesunde und warme (Mittag-)essen in Kindertagesstätten und an Schulen monatelang aus, fehlte die Hausaufgabenbetreuung und die schulische Begleitung für Kinder. Kinder und Jugendliche wurden extrem in ihrer Mobilität eingeschränkt und verschwanden fast vollständig aus den öffentlichen Räumen. Armutsbetroffene Kinder und Jugendliche haben zwar Anspruch auf Leistungen nach dem Bildungs- und Teilhabegesetz, häufig ist dieser Anspruch jedoch an den Besuch und die gemeinschaftliche Verpflegung in Einrichtungen wie Kindertagesstätten, Horten und Schulen gebunden. Mit deren Schließung fallen diese Leistungen bzw. die entsprechende Anforderungsstruktur vielerorts weg. Die Eltern können diese Defizite finanziell nicht ausgleichen. Kinder können nicht angemessen ernährt oder gekleidet werden, wodurch sich die sozialen Unterschiede und Stigmata in den Lebenslagen systematisch etablieren. Immer mehr Familien leben unterhalb des Existenzminimums – mit allen wissenschaftlich belegten Armutsfolgen in Bezug auf Gesundheit, Persönlichkeitsentwicklung und Lebensperspektiven. Darüber hinaus leben viele Familien auf engstem Raum – ohne ausreichende Rückzugsmöglichkeiten, Garten oder Balkon und teilweise in einem schwierigeren Umfeld mit durchschnittlich weniger Freizeit- und Naherholungsstrukturen. Nicht selten fehlt zu Hause die technische Ausstattung für das Home-Schooling oder auch die digitale Aufrechterhaltung von Kontakten. Viele Eltern können ihre Kinder nur begrenzt bei ihren Entwicklungsaufgaben unterstützen. Diese verschärfenden Bedingungen führten in vielen Familien zu Überforderung und zu Gewalt, was die aktuellen Erhebungen zu den psychischen Folgen und die Zunahme häuslicher und sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern auf tragische Weise deutlich machen. Gerade geflüchtete Familien sind oft von Armut betroffen, wenn sie in Deutschland ankommen. Zwangsläufig bilden sich Parallelstrukturen. Inklusionsangebote wie Spracherwerbskurse, die ohnehin nur für Menschen außerhalb der EU vorgesehen sind, werden von staatlicher Seite häufig nicht zeitnah eingeleitet und fielen coronabedingt sogar aus. Damit wird familiäre Perspektivlosigkeit zementiert. Die allermeisten Kinder und Jugendlichen verhalten sich gerade überaus solidarisch und verantwortungsbewusst – gerade auch gegenüber ihren älteren Mitmenschen. Dies fordert einen hohen Preis: die überwiegende Zahl der Kinder und besonders Jugendliche ziehen sich zurück und sind isoliert. Zunehmende Vereinsamung ist die Folge. Auch wenn trotz Lockdown die Angebote der Kinder- und Jugendarbeit grundsätzlich geöffnet blieben, waren viele Trägerorganisationen verunsichert und ehrenamtliche Strukturen überfordert, so dass viele Angebote, wie beispielsweise in Jugendzentren, Spielparks, Familienzentren oder Horten, nicht oder nur eingeschränkt verfügbar waren. Zusätzliche Mittel, die z.B. für die Wirtschaft niedrigschwellig ausgeschüttet wurden, stehen für den Kinder- und Jugendbereich beispielsweise für ergänzende Angebote bis heute aus. Kindern und Jugendlichen nützt ein bundesweites Krisentelefon wenig, wenn sie vor Ort keine Ansprechpersonen haben, zu denen sie vermittelt werden können und denen sie vertrauen. Lösungswege für zukünftige Krisen Zusammenfassend ist es nicht nur, aber auch während einer Krise besonders für von Armut betroffene Kinder und Jugendliche extrem wichtig, dass die Ernährungs- und Versorgungssituation gesichert wird, ergänzende und unterstützende Bildungsangebote ausgebaut werden, mehr und kindgerechte Bewegungs- und Ausweichmöglichkeiten geschaffen werden, die niedrigschwelligen Anlauf- und Beratungsangebote ausgebaut werden, die bestehenden kommunalen Kinder-, Jugend- und Bildungseinrichtungen krisenfest aufgestellt sind, alle kommunalen Einrichtungen niedrigschwellig zugänglich sind, in den Quartieren Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche zur Verfügung stehen (z.B. offene Sprechstunden der Kinder- und Jugendarbeit) dass Sanktionen in der Grundsicherung abgeschafft werden. Kinder und Jugendliche aus ärmeren Familien sollen grundsätzlich besonders unterstützt werden. Wichtige Weichenstellungen für diese Unterstützung sind an den folgenden Stellen vorzunehmen: Die Erziehungspartnerschaft zwischen Eltern und Pädagog*innen hat sich besonders in den Zeiten der Coronabelastungen als eine notwendige Grundlage der Zusammenarbeit bewährt. Alle Eltern sollten bei Bedarf einen niedrigschwelligen Zugang zu den professionellen Hilfen eines ortsnahen Familienzentrums oder Jugendhilfeträgers in Anspruch nehmen können. Soziale Kriterien müssen z.B. bei der Frage der Notbetreuung – wie jetzt in der Pandemie – mindestens gleichrangig zu z.B. rein epidemiologischen Erwägungen berücksichtigt werden. Für zusätzliche Angebote muss zusätzliches Personal (u.a. Lehramtsstudierende) mobilisiert werden. Frauenhäuser, Notunterkünfte, Kinderschutzzentren und andere Not-Anlaufstellen brauchen feste Finanzierungszusagen. Dabei ist zu prüfen, wie stationäre Angebote für gewalttätige Männer zu organisieren sind, um ggf. einen Umzug der von Gewalt betroffenen Familienmitglieder zu vermeiden. Die Trägerorganisationen und die kommunalen Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit und der Jugendhilfe müssen von etwaigen Einsparmaßnahmen verschont bleiben. Der Zugang zu technischen Geräten für das digitale Lernen und zu schnellem Internet muss sichergestellt werden. Kinder in Armutshaushalten müssen Endgeräte gestellt bekommen. Aus der Coronakrise sozial-, jugend-, familien- und wirtschaftspolitisch lernen Schon jetzt zeigen sich die Probleme einer Familienpolitik, die Armut immer noch zu sehr als individuelles Schicksal über individuelle Leistungen wie Kindergeld, Kinderzuschlag und Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket zu lösen versucht. Ziel muss sein, den Anspruch zu verfolgen, faire und gleiche Entwicklungsbedingungen für Kinder und Jugendliche vor Ort zu schaffen. Die beste Armutsprävention ist ausreichend bezahlte Arbeit für die Eltern. Dies setzt eine aktivere Arbeitsmarktpolitik voraus, die Menschen eine Perspektive schafft. Wir brauchen endlich eine Kindergrundsicherung, die nicht auf die Transferleistungen der Eltern angerechnet wird. Die soziale Infrastruktur muss so entwickelt werden, dass sie unabhängig von individuellen Transferleistungen für arme Kinder und Jugendliche präventiv und entwicklungsfördernd wirkt. Denn monetäre Individualleistungen wie Kindergeld und -zuschlag können fehlende kommunale Infrastruktur-Maßnahmen zur Daseinsvorsorge von Kindern und Jugendlichen nicht ersetzen. Die Regelsätze in der Grundsicherung müssen erhöht werden, wie es das Modell der Garantiesicherung der Grünen Bundestagsfraktion vorsieht. Das „Aufholpaket“ des Bundes muss durch einen Aktionsplan des Landes ergänzt werden, der einen Schwerpunkt auf Freizeit-, Sport- und Spielangebote setzt. Die konsequente Umsetzung der Kinderrechte in den Lebensbereichen Bauen und Wohnen, Sozialraum und Mobilität, Gesundheit und Bildung, Wirtschaft und Digitalisierung ist überfällig. Eine konsequente Beteiligung von Kindern und Jugendlichen kann unser Gemeinwohl und das Zusammenleben für alle positiv verändern und begrenzt die Gefahr von Kinder- und Jugendarmut bzw. gibt positive Impulse in Richtung der Selbstwirksamkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen. Daraus ergeben sich folgende kommunal- und landespolitischen Forderungen: Einsatz einer*eines Kinder- und Jugendbeauftragten in jeder Kommune. Sozialräumliche Sozialplanung und Berichterstattung zu kommunaler Kinder- und Jugendarmut. Die vereinfachte Beantragung von Sozialleistungen wie Grundsicherung und Wohngeld. Stopp der Kostensenkungsverfahren und Sanktionen in der Grundsicherung. Sicherstellung der Grundversorgung mit Strom, Wärme, Energie, Wasser, Telefon und Internet. Ein „Sicher-Wohnen-Fonds“ für Mieter*innen mit kleinem Einkommen bei kurzfristigen Mietausfällen. Das Aussetzen von Zwangsvollstreckungen und Zwangsräumungen von Mieter*innen. Die Bereitstellung von Fördermitteln in jeder Schulform zur Unterstützung von lernschwächeren Schüler*innen, um Abschulungen abzuschaffen. Absicherung und langfristige Finanzierung von Jugendwerkstätten und von Ausbildungsplatzgarantien. Fortführung der Programme zur Berufsorientierung an allen weiterführenden Schulen in Zusammenarbeit mit den Verbänden und Kammern aus Wirtschaft und Handwerk. Eine kindgerechte Verkehrs- und Stadtentwicklungsplanung, die angemessene Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche vorhält.