Hier Fair und Sicher: Für die Gleichstellung mobiler ausländischer Arbeitskräfte auf dem europäischen Arbeitsmarkt 14. April 2024 Vor zwanzig Jahren, im Jahr 2004, kam es zu einem historischen Moment: Das Jahr markierte den EU-Beitritt von zehn neuen Mitgliedstaaten – hauptsächlich aus Mittel- und Osteuropa – was die geografische, politische und wirtschaftliche Landschaft der EU nachhaltig veränderte. Mit der sogenannten Osterweiterung sollte die Teilung Europas in Ost und West endgültig überwunden und eine neue Ära der Zusammenarbeit und Integration eingeleitet werden. Die Auswirkungen dieser Erweiterung auf die Arbeitsmärkte und die Mobilität von Arbeitskräften innerhalb der EU waren tiefgreifend. Die Freizügigkeit von Personen, eine der vier Grundfreiheiten des EU-Binnenmarktes, hat Millionen von Bürger*innen aus den neuen Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet, in anderen EU-Ländern zu arbeiten, zu studieren und zu leben. Diese Mobilität hat jedoch auch neue Herausforderungen hervorgebracht, insbesondere für Beschäftigte aus Ostmittel- und Osteuropa sowie aus Drittstaaten wie der Ukraine und anderen, die durch das Entsendesystem in die EU kommen und sich vorübergehend in einem anderen EU-Staat aufhalten. Ihre persönlichen Geschichten sind oft traumatisierend, denn das Arbeitsrecht und die behördlichen Strukturen sowohl im Arbeitsland als auch im Herkunftsland schützen ihre Rechte bisher nur unzureichend. Mobile Beschäftigte haben wesentlich zum wirtschaftlichen Wachstum und zur kulturellen Vielfalt in der gesamten Union beigetragen. Auch Niedersachsen, mit einer ausgeprägten Landwirtschaft und Fleischindustrie, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Zielland von mobilen Arbeitsmigrant*innen entwickelt. Branchen, in denen mobile Beschäftigte überwiegend arbeiten, sind: Paketbranche (Kurier-, Express- und Paketdienste, KEP-Branche), Bauwirtschaft (Bauhaupt- und Nebengewerbe), Häusliche Betreuung, Landwirtschaft (insbesondere Erntehelfer), Industrie, Schlachtereien und Fleischverarbeitung, Transport und Logistik (insbesondere LKW-Fahrer), Gebäudereinigung. Mehrere Millionen mobile Beschäftigte in Deutschland arbeiten in diesen Branchen; ohne sie würden diese stillstehen. Heute, zwanzig Jahre nach der EU- Osterweiterung, sehen wir die dringende Notwendigkeit, entschlossen gegen die Ausbeutung und das Sozialdumping in diesen Branchen vorzugehen. Die soziale Integration mobiler Beschäftigter mussnicht nur gesellschaftlich, politisch sondern auch betrieblich gefördert und Diskriminierung am Arbeitsplatz bekämpft werden. Die Ungleichheit, der sich viele Menschen derzeit ausgesetzt sehen, ist struktureller Natur und wir müssen sie auf verschiedenen Ebenen bekämpfen: in der Ökonomie, beim Zugang zu Rechten, bei Fragen der Zugehörigkeit und der Anerkennung. Viele mobile Beschäftigte stecken in Werkvertragskonstruktionen fest – sei es, dass sie selbst Werkvertragsnehmer sind, sei es, dass sie bei einem Werkvertragsnehmer angestellt sind. Der Missbrauch von Werkverträgen ist in den letzten Jahrzehnten zu einem echten Problem am Arbeitsmarkt geworden; zu einem Instrument für Ausbeutung und prekäre Beschäftigung. Die Bundesländer, darunter federführend Niedersachsen, haben sich bei der Reform der Kurier-, Express- und Paketbranche (KEP-Branche) eindeutig auf die Seite der Beschäftigten gestellt. Im Februar beschloss der Bundesrat eine Stellungnahme zum Gesetz und forderte das Verbot von Subunternehmen in der Paketbranche sowie eine echte 20-Kilogramm-Grenze in der Ein-Personen-Zustellung. 1. Wir bestärken die niedersächsische Regierung in ihren Forderungen des Verbots von Subunternehmen in der KEP-Branche sowie der 20-Kilogramm-Grenze in der Ein- Personen-Zustellung und erwarten Entschlossenheit, diese Position auch bei weiteren Verhandlungen nicht aufzugeben. Denn ohne diese Maßnahmen droht eine Fortsetzung des systematischen Rechtsbruchs. In der KEP-Branche arbeiten ca. 300.000 Arbeitnehmer*innen. Die Branche boomt mit dem Online-Handel. Für die großen Paketdienstleister sind jedoch Tausende Subunternehmen tätig. Viele Beschäftigte kommen aus Osteuropa sowie aus Drittstaaten und haben Verträge mit mehreren Firmen, etwa für die Verladung und die Zustellung. Bis zu 300 Pakete pro Tag müssen die Paketzusteller*innen liefern, sie tragen alleine manchmal bis zu 70 kg schwere Pakete, 14-Stunden-Tage sind keine Seltenheit, ebenso wie Dumpinglöhne, das Schlafen in den Fahrzeugen sowie willkürliche Strafen und Arbeitssperren unter Missachtung von Datenschutz. Ähnlich wie zuvor in der Fleischindustrie gilt für die Paketbranche: Menschliches Leid ist Ergebnis einer fehlenden arbeitsmarktpolitischen Regulierung. Subunternehmen, Leiharbeit und Werkverträge entlasten die großen Unternehmen von der Verantwortung dafür, was die Arbeiter*innen verdienen und wo sie wohnen – das ist rechtlich Aufgabe der Subunternehmen, von denen es häufig ein ganzes Netzwerk gibt. Die Branche ist dadurch für die Behörden kaum effektiv zu kontrollieren. Dies muss unterbunden werden, denn dieses System führt oft zu einer organisierten Verantwortungslosigkeit. Das Verbot von Subunternehmen in der Fleischindustrie war ein bedeutender Hebel und wegweisender Schritt, der zu der Verbesserung der Arbeitsbedingungen der mobilen Beschäftigten geführt hat. Um die Situation mobiler Beschäftigter in Niedersachsen auch in anderen Branchen zu verbessern, sind auf Landesebene zusätzliche Maßnahmen einzuleiten: 2. Die Ausstattung der Gewerbeaufsichtsämter mit dem nötigen Personal ist essenziell, um die Durchsetzung von Arbeitsschutzrechten zu stärken. Dabei ist eine Zunahme an Kontrollen von großer Bedeutung. Diese sollten ohne Diskriminierung durchgeführt werden, wobei das Wohl und die Sicherheit aller Beschäftigten stets im Mittelpunkt stehen müssen. 3. Mobile Beschäftigte sind auf Unterstützung und Beratung angewiesen. Europäische Unternehmen in Deutschland (und in allen anderen EU-Staaten) haben das Recht auf einen „Einheitlichen Ansprechpartner“, wenn sie Dienstleistungen erbringen wollen. Es ist also selbstverständlich, dass Unternehmen beraten und tatkräftig unterstützt werden. Auch die Arbeitnehmer*innen brauchen dies dringend: Wir fordern einen Ausbau und eine Verstetigung der Landesberatungsstellen für mobile Beschäftigte. Auf der europäischen Ebene setzen wir uns dafür ein, auch für Arbeitnehmer*innen, die fernab des eigenen Herkunftslandes tätig sind, europaweit ein entsprechendes Recht auf Beratung einzuführen. 4. Die Praxis zeigt: Da sich transnationales Arbeiten und Leben in vielen Biografien über ganze Jahrzehnte erstreckt, ist die Entwicklung von Integrationskonzepten, die auf die Lebensrealität transnationaler Migration (laut der EU-Kommission ca. 20 Millionen Menschen in Europa) zugeschnitten sind, dringend erforderlich. Wir brauchen lokale und digitale Angebote für eine bessere soziale Integration von mobilen Beschäftigten sowie einen verbesserten Zugang zu Sprachkursen, Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen. Die hier mobil arbeitenden Menschen sollen Chancen zur kulturellen, sozialen und (gewerkschafts)politischen Teilhabe erhalten. 5. Im Rahmen der kommunalen Umsetzung der Istanbul-Konvention müssen Betreuer*innen, die in Privathaushalten arbeiten, als Betroffenengruppe in den Fokus rücken. Gewalt und Aggressionen durch Pflegebedürftige und Angehörige sind in der Pflege keine Seltenheit. Hier gilt es, spezifische Schutzmaßnahmen auf Landes- und Kommunalebene zu entwickeln. 6. Auf europäischer Ebene setzen wir uns für einen europäischen Aktionsplan ein, der an der Schnittstelle mehrerer Rechtsbereiche ansetzt: dem Arbeitsrecht, dem Sozialrecht und dem Aufenthaltsrecht. Dies ist von Bedeutung, da nicht nur EU- Bürger*innen entsandt werden, sondern auch Drittstaatsangehörige, wie der Fall der streikenden LKW-Fahrer in Gräfenhausen verdeutlichte. Um die Teilung Europas und das europäische Ost-West- und Nord-Süd-Gefälle nachhaltig zu überwinden, ist es unabdingbar, höhere Arbeitsstandards für alle zu etablieren, unabhängig von ihrer Herkunft. Nur so kann die Vision eines gerechten und inklusiven Europas Wirklichkeit werden, in dem jeder Mensch die gleichen sozialen Güter genießt. Wir treten der Diskriminierung mobiler Beschäftigter entschlossen entgegen und setzen uns für einen fairen und sicheren Arbeitsmarkt ein.