Keine Atomdeals mit Putin – weder in Lingen noch in Europa 15. April 2024 Wir niedersächsischen GRÜNEN setzen uns dafür ein, dass weder in Niedersachsen noch in Europa Brennelemente unter russischer Beteiligung gefertigt werden, die europäischen Sanktionen gegen Russland auf die Atomwirtschaft ausgedehnt werden, die europäische Energiewirtschaft insgesamt diversifiziert und auf den Erneuerbare-Energien-Pfad gebracht wird, um die Abhängigkeit von autokratischen Staaten zu minimieren. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat uns in Europa unsere Verletzlichkeit aufgrund der einseitigen energiewirtschaftlichen Abhängigkeit von Russland vor Augen geführt. Deutschland und Europa haben seit Beginn des Krieges erhebliche Anstrengungen unternommen, um Europa unabhängig von russischem Gas zu machen. Wir alle haben die wirtschaftlichen Folgen dieser Bemühungen gespürt und mitgetragen. Die Bundesregierung hat in den letzten zwei Jahren dafür gesorgt, dass unsere Gasimporte von Russland unabhängig geworden sind. Durch eine Gas- und Strompreisbremse konnten die Auswirkungen für die Verbraucher*innen auf einem erträglichen Niveau gehalten werden. Dass die Energiepreise sich heute, wenn auch auf einem höheren Niveau, wieder stabilisieren, ist ein großer Erfolg des Wirtschaftsministeriums unter Minister Habeck. Trotzdem spielt Russland weiterhin eine bedeutende Rolle in der europäischen Energieversorgung. Rund 20% des Urans für Betreiber aus Euratom Staaten kam 2020 aus Russland. Rund 26% der Urananreicherungsdienstleistungen deckt Rosatom in der EU ab. 21 Kernreaktoren in der EU versorgte Rosatom im Jahr 2021 mit Brennelementen. Bulgarien, Ungarn, Slowakei und Tschechien sind zu 100% von russischen Brennelementen abhängig – Finnland zu 35%. Außerdem werden drei Reaktoren in Westeuropa im Zuge einer Kooperation zwischen Rosatom und Framatome mit Brennelementen versorgt. Diverse europäische Unternehmen sind mit dem russischen Staatskonzern Rosatom durch den Neubau von Reaktoren russischer Bauart verflochten. Darunter das deutsche Unternehmen Siemens [1]. Neben China ist Russland in den letzten 10 Jahren zum größten Akteur der weltweiten Atomindustrie geworden. 24 AKW russischer Bauart befinden sich weltweit im Neubau. Davon nur vier in Russland selbst [2]. Der französische Konzern Framatome ist nun ein Joint Venture mit der russischen Atomfirma TVEL eingegangen. Ziel des Gemeinschaftsunternehmens ist die Fertigung hexagonaler Brennelemente russischer Bauart am Standort Lingen. Entsprechend wurde beim niedersächsischen Umweltministerium ein Genehmigungsantrag gestellt. Das Mutterunternehmen von TVEL ist der russische Staatskonzern Rosatom. Dass dieser dem direkten Zugriff des Kremls unterliegt, beweist dessen Verwicklung in die Übernahme des AKW Saporischschja. Es ist naiv zu glauben, durch die Betätigung eines Joint Ventures zwischen Framatome und Rosatom am Standort Lingen könne der Osten Europas sich mittelfristig unabhängig von russischen Brennelementen machen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Lizenzen für die Brennelemente russischer Bauart liegen weiterhin bei Rosatom. Der russische Staat weitet seine Dominanz in der weltweiten Atomindustrie durch diesen Schritt nur weiter aus. Es lassen sich diverse Szenarien konstruieren, die die Bundesrepublik aus Rücksicht auf diplomatische Beziehungen zu Drittstaaten in ihrem Regulierungs- und Sanktionierungsverhalten gegenüber Russland einschränken würden. Das Verhalten Putins ist in aggressiver Weise darauf ausgerichtet, seine Macht- und Herrschaftsansprüche auf genau diese Art zu demonstrieren. Russland führt gegen die Ukraine einen hybriden Krieg, der sich neben tatsächlichen Kampfhandlungen auch auf Desinformation, Propaganda und Cyberangriffe erstreckt. Diese beschränken sich nicht auf die Ukraine selbst, sondern betreffen auch deren Verbündete. Der russische Staat fährt Desinformationskampagnen in und gegen Deutschland. Diese dienen der Destabilisierung der inneren Verhältnisse und der Verunsicherung strategischer Partner in der Welt. Zuletzt wurden durch das Auswärtige Amt 50.000 russische Fake-Accounts auf X aufgedeckt – und eine Videokonferenz führender deutscher Offiziere zur Frage der Taurus- Langstreckenraketen für die Ukraine abgehört und veröffentlicht. Sicherheitspolitisch ist also zu beurteilen, inwieweit das russische Regime die Kenntnisse aus dem russisch-französischen Joint Venture am Standort Lingen nutzen kann, um der Bundesrepublik Deutschland im Inneren zu schaden oder eigene außenpolitische Interessen durchzusetzen. Das niedersächsische Umweltministerium hat hier keine triviale Entscheidung zu fällen. Der Fall zeigt aber auch, wie dringend nötig es schon seit langem ist, dass sich die EU darauf verständigt, die Sanktionen gegen Russland auch auf die Atomwirtschaft auszudehnen. Dann nämlich stünde eine Genehmigung mit einer derart sicherheitspolitischen Tragweite gar nicht zur Debatte. Gleichzeitig hat die europäische Kommission soeben eine Industrieallianz für kleine modulare Reaktoren (SMR) ausgerufen. Die ersten SMR sollen bereits bis Anfang der 2030er Jahre eingeführt werden. SMR sind kleine Nuklearreaktoren mit einer Maximalleistung von 300 Megawatt. Man erhofft sich von Ihnen einen flexibleren Einsatz, da sie weniger Platz und Kühlwasser brauchen. Sie sollen zur Netzstabilität des europäischen Stromnetzes beitragen und in Serie hergestellt werden. Dies soll auch zur Senkung von Produktionskosten führen. Das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) sieht das anders. Es kritisiert den Beitrag von SMR als Lösung für die Herausforderungen des Klimawandels: Wenn SMR einen signifikanten Beitrag zur Stromerzeugung leisten sollen, müssten viele tausend bis zehntausend SMR-Anlagen gebaut werden. Der Betrieb jeder dieser Anlagen wäre mit Nukleartransporten zur Ver- und Entsorgung verbunden. Aus einem von der BASE in Auftrag gegebenen Gutachten zur Produktionskostenrechnung geht außerdem hervor, dass im Mittel 3000 SMR produziert werden müssten, bevor sich der Einstieg in die Serienproduktion lohnen würde [3]. Aber, selbst wenn die EU hier andere Wege geht als Deutschland fehlt es bisher an einer europäischen Strategie zur Diversifizierung der Atomindustrie. Momentan wird der Markt von China und Russland dominiert. Mit der Einstufung von Atomkraft als nachhaltige Energiequelle steuert die EU sonst direkt in die nächste Abhängigkeit. Mittel- bis langfristig bietet der Umstieg auf Erneuerbare Energien die höchstmögliche Unabhängigkeit von totalitären Regimes und damit auch die höchstmögliche Sicherheit für die europäische Energiearchitektur. [1] Gufler/Meister, Umweltbundesamt, REP-0814: Analyse der Rosatom-Aktivitäten bzw. Rosatom-Verflechtungen mit der EU, Wien 2022. [2] Mycle Schneider et al., The World Nuclear Industry Status Report, Paris, Dezember 2023. [3] Bundesamt für nukleare Sicherheit: SMR – Was ist von den neuen Reaktorkonzepten zu erwarten? Verfügbar unter: https://www.base.bund.de/DE/themen/kt/kta-deutschland/neue_reaktoren/neue- reaktoren.html, letzter Zugriff: 28.03.2024.